Es ist noch heller Tag und Christine macht den Vorschlag, heute noch,
jetzt gleich nach Riemberg zu fahren und den Hof der Eltern meiner
Mutter zu suchen. Auch den einzigen Birnbaum in Hauffen, vom
eingeheirateten Hof meiner Mutter, wollen wir finden.
Es ist heute Sonnenwende und eine laue Sommernacht ist zu erwarten.
Also fahren wir los, gesättigt und in bester Laune. Ein eigenartiges
Gefühl umschleicht mich, als wir nach Riemberg hineinfahren.
Ein Straßendorf, wie wir gleich erkennen sollen. Links die Kirche,
das rote Backsteingebäude daneben, war die ehemalige Schule.
Wir lassen die ersten Eindrücke auf uns wirken. Keiner spricht ein
Wort. Es ist ein Dorf aus einer stillgestandenen Zeit.
Nichts hat sich hier verändert. Es ist so, wie es die Mutter erzählte.
Jeder von uns hängt seinen eigenen Gedanken nach. Dann gehen wir
planmäßig vor. Da wir nur ungefähr wissen, wo der Elternhof meiner
Mutter steht, fahren wir zunächst bis zum Ende des Dorfes.
Dort muss es irgendwo sein. Wir fahren ein paar mal, so gut es geht
und die Wege es zulassen, um das Dorf herum.
Auf einmal ruft Christine: „Dort hinten, ein rotes Dach. Und dort,
auf der anderen Seite, der sagenumwobene Zugwaggon, von dem
schon meine Mutter erzählte und keiner weiß, woher er stammt
und wie er dorthin kam. Jetzt sehen es Peter und ich auch.
Das muss es sein. Aber wie hinkommen? Weit und breit kein Weg
dorthin, nur ein zweispuriger Feldweg für landwirtschaftliche
Fahrzeuge. Dieser Weg schien uns einmal breiter gewesen zu sein.
Er ist zugewachsen und wir erkennen ihn nur, weil kurz zuvor ein
Bauer mit dem Traktor auf seine Wiese fuhr. Wir wagen es, mit
dem Auto die Spur entlangzufahren. Die Wildnis wird immer dichter
und unübersichtlicher, bis das Auto nicht mehr zu bewegen ist.
So nah am Ziel geben wir nicht auf, komme was wolle.
Den letzten Rest des Weges müssen wir zu Fuß gehen. Gesagt, getan.
Wir lassen das Auto stehen, welches im Gras fast verschwindet.
Erfreut, gespannt und gleichzeitig aufgeregt, stehen wir ein paar
wenige Meter weit entfernt vor dem ehemaligen Anwesen der
Eltern meiner Mutter.
Hier hatte sie also ihre Kindheit verbracht. Von hier erzählte sie
Geschichten von ihrem ach so strengen Vater. Hier wuchs sie mit
ihren vier Geschwistern auf. Hier musste sie schon von klein auf
arbeiten auf dem Feld und auf den Wiesen. Wenig Spielzeug
hatten sie und von schicken Kleidern war nicht zu reden. Mit
ihren drei Schwestern musste sie ein Paar Sonntagsschuhe teilen.
Wenn im Dorf ein Fest war, durfte jede von ihnen am Abend eine
Stunde hingehen, dann musste sie nach Hause kommen und jetzt
durfte die andere Schwester eine Stunde zum Dorffest.
Ich kann mir jetzt sehr lebhaft vorstellen, wie recht sie hatte.
Es ging nicht anders, als dass sie hier – vielleicht auf diesem Weg –
barfuß nach Hause rannte, die Schuhe lieber in der Hand tragend,
damit sie nicht schmutzig wurden und dann der anderen Schwester
übergab.
Wir stapfen weiter durch die Wiese, ungeachtet der Tiere auf dem
feuchten Boden, auf dem jahrzehntelang kein Mensch mehr gelaufen
ist. Wir kommen immer näher. Mein Herz pocht immer stärker und
auf einmal stehen wir vor dem kleinen Bauern-Wohnhaus.
Es ist zerfallen, Türen und Fenster eingeschlagen. Dachziegel liegen
haufenweise auf dem Boden und aus dem Dach ragt ein blühender
Holunderbaum, als lebendiges Zeichen von Zerfall und Neuerwachen.
Vorsichtig wagen wir uns in das Innere des Hauses. Quadratisch
angeordnete Zimmer sind zu erkennen. In einem Raum kann man
noch ein paar blass gelbe Kacheln eines Ofens erkennen. Der Boden
ist übersät mit Schmutz und verfaultem Holz. In einem der Räume
muss jemand vor Jahren wild genächtigt haben. Es ist noch eine
Feuerstelle zu erkennen. Eine Stiege hinunter in einen Keller ist zu
erkennen. Ab der Hälfte ist er mit Erde zugeschüttet. Christine wagt
sich, eine noch erhaltene Steintreppe in den oberen Bereich hinauf zu
steigen. Die Bilder sind die gleichen wie unten. Alles verwittert,
verfault und verkommen. Dennoch scheint die Sonne über alles und
verteilt so etwas wie einen goldenen Schimmer über all das Unsagbare,
was wir sehen.
Neben all dem Verkommenen, taucht immer wieder das Bild meiner
Mutter in mir auf. Ich kann sie mir so gut vorstellen, wie sie als Kind
hier aufgewachsen ist. Dann entdecken wir, dass an dem Rahmen der
Haustür ein verrosteter Schlüssel steckt. Bei näherem Betrachten fällt
uns auf, dass die Tür eingeschlagen wurde, deshalb ist nur der
zersplitterte Rahmen erkennbar.
Ein Gefühl umschleicht mich, welches ich nicht unglücklich und nicht
traurig beschreiben kann. Es ist so wirklich, was habe ich denn sonst
erwartet? Ich bin gerührt und eine innere Wärme beschleicht mich.
Die Sonne versinkt am Horizont und hüllt das alte verwitterte und
sagen trächtige Haus in ein goldenes Licht, so, als muss es so sein
und nicht anders.
Eine untergehende Sonne, die jeden Tag wieder kommt und eine
untergegangene Zeit, die in der Erinnerung lebt, die nie wieder
auftaucht. Oder doch? Vielleicht in verwandelter Form?
Wie auch immer. Wir suchen ein paar intakte Ziegel die am
Boden liegen, als Mitbringsel für Elke, unsere andere Tochter
und Enkelin meiner Mutter. Ich pflücke Blumen, Gräser und
Holunderblüten zum Trocknen und Pressen später Zuhause.
Die Nebengebäude sind zugewachsen und nicht begehbar.
Nur zerfallene Mauerreste sind zu erkennen.
Dann entdecke ich einen Nussbaum. Meine Mutter erzählte von
einem Nussbaum. Nur, dieser muss ein Ableger sein. Er scheint
jung und neu. Vor der Haustür sehen wir noch ein Loch in der
Erde. Wir sind nicht sicher, ob der Boden brüchig ist und machen
einen Bogen um ihn. Eine Weile noch verbringen wir wortlos
vor dem Haus und jeder ist in seine eigene Gedankenwelt versunken.
Dann machen wir uns auf den Rückweg. Wieder durch mannshohe
Nesseln und Schlingkraut, feuchte Wiesen, Kornblumen und Gräser
aller Arten. Wir spüren die Mückenstiche kaum noch, es sind zu viele.
Der Blick von der Einsiedelei auf das Dorf Riemberg ist beeindruckend.
In der Ferne noch immer der Bauer auf seiner Wiese, in der Luft ein
motorisierter Drachenflieger. Eine wunderschöne Landschaft.
Ein Dorf, als hat man es vergessen, so eigenwillig, rein und gefällig.
Auf dem Rückweg fallen uns die Masten auf, an denen noch alte
Birnen hängen, die den Weg zum Hof beleuchtet hatten, einst, in einer
anderen Welt.
Ein durch und durchdringender Kräutergeruch erfüllt die Luft in der
untergehenden Abendsonne und am längsten Tag im Jahr.
Wir kehren zum Auto zurück. Die Gegenwart und das Hier und Jetzt
hat uns wieder. Das Gras am Boden des Autos schleifend, holprig
und vorsichtig fahrend, befinden wir uns wieder auf der Straße.
Wir fahren zurück nach Wohlau. Wir sind überwältigt von den
Eindrücken des alten und verfallenen Hauses auf dem Elternhof
meiner Mutter.
Morgen werden wir Hauffen und den Birnbaum meiner Mutter, ihres
verstorbenen Mannes und ihrer beiden Kinder aus erster Ehe suchen.
Zuerst besuchen wir am nächsten Morgen den Bürgermeister,
Herrn Jurek, in Riemberg. Ich will erfahren, woher der Name
„Bendier“ stammt. Unsere Fragen kann er nicht beantworten, aber
freundlich zugewandt lädt er uns in sein Gartenhaus ein. Seine
Deutschkenntnisse erwarb er einst bei einem Arbeitsaufenthalt in
Deutschland. Von den früheren Eigentümern der Höfe wusste er
nichts zu berichten. Nur so viel, dass eine ältere Frau nach dem
Weggang der Zwangsumsiedler (Name nicht bekannt), den Hof
käuflich erwarb. Eines Tages zog sie weg - etwa vor 10 Jahren -
und niemand weiß, wohin sie ging.
Herr Jurek, lädt uns ein, ein Kloster in der Nähe zu besuchen.
Er kennt den Abt, der für uns am nächsten Tag eine Führung
arrangieren will. Leider müssen wir das wirklich schöne Angebot
zeitlich einschränken, da wir einen Termin in Oppeln haben.
Wenigstens können wir zunächst nur einen Kurzbesuch annehmen.
Wir sehen ein total neu renoviertes wunderschönes Kloster,
welches wir leider nur von außen besichtigen können.
Der freundliche Abt, Pater Josef, muss die Führung am nächsten
Tag absagen. Er vergaß, dass an diesem Wochenende Exerzitien
stattfinden. Eine Reise allein nur zu dem Kloster würde sich lohnen.
(Der Name des Klosters ist mir leider nicht bekannt).
Den Nachmittag verbringen wir wieder in Riemberg. Zunächst
suchen wir den Hof meiner Mutter in Hauffen. Hauffen gehörte
zu Riemberg und liegt nur etwa 1 km von Riemberg entfernt.
Vom Hof ist nichts mehr zu sehen. Wir suchen nach dem Birnbaum,
welcher vom Sohn meiner Mutter aus erster Ehe, beschrieben wurde.
Wir finden einen umgefallenen Baumstamm. Der muss es gewesen
sein und an dieser Stelle muss der Hof gestanden haben.
Ein Gutsschloss soll daneben gestanden haben und noch einige
Bauernhöfe in einer Reihe, entlang der Straße.
Alle Höfe und das Schloss sind abgebrannt und es kamen viele
Menschen zu Tode.
Ein eigentümliches Gefühl überkommt uns. Während wir von
Mückenschwärmen umsegelt werden, graben Christine und ich in
der Erde, um auf evtl. Mauerreste zu stoßen. Der Boden ist wellen
artig und lässt erahnen, dass darunter Mauerreste vorhanden sind.
Es sind schließlich die unaufhaltsamen Mückenstiche, die uns
vertreiben.
Wir besuchen anschließend den Friedhof in Riemberg. Auf einem
Hügel wurde einst der Friedhof angelegt.
Deutsche ehemalige Gräber sind total verwüstet und man kann
die verwitterten Steine kreuz- und quer und übereinander liegend
als ehemalige Grabsteine erkennen. Leider sind keine Namen mehr
lesbar. Eine eigentümliche Ruhe liegt über dem Friedhof und wir
gehen durch die Reihen der neu angelegten Gräber. Vor jedem Grab
ist eine kleine Bank angebracht. Eine schöne Geste und wir sitzen
eine lange Weile still vor den Gräbern.
In Wohlau wieder angekommen, fühlen wir uns von den Eindrücken
in Riemberg bereichert und wie der Name „Wohlau“ auszudrücken
versucht, fühlen wir uns geborgen in diesem Ort. Weil in dem Ort
kein Gasthaus zur Verfügung steht, verbringen wir die halbe Nacht
auf einer Bank in der Mitte des Städtchens und erzählen uns die
Eindrücke dieses Tages. Jeder hält dabei eine Flasche Bier in der Hand.
Am nächsten Tag besuchen wir Breslau und verbringen zwei Tage dort.
Wir erleben nur einen winzigen Teil dieser wunderschönen Stadt
während einer 1 1/2stündige Führung mit einer Touristenbahn.
Dabei besuchen wir den Dom, Kreuzkirche, Jesuitenkirche,
St. Magdalena, die Kunstzeile, ehem. Fleischstraße. Wir sehen viele
Bettler mit Kindern vor den Kirchen sitzen. Eine Gruppe junger Leute
kommt uns entgegen, "Free Hug" nennen sie sich. Wir lassen uns von
ihnen umarmen und spüren, dass man leicht in Kontakt kommen könnte,
wenn nicht die Sprachbarrieren wären.
Wir erleben einen sehr sinnigen und tiefen Eindruck von der
Wiederherstellung der einst total zerstörten Stadt Breslau.
Es ist hier im Zentrum so, als wäre nie etwas geschehen.
Wir verlassen nach zwei Tagen Breslau bei starken Regen,
Wind und Kälte in Richtung Dresden.
Erika Baumann
Anmerkung:
Unter - www.erzaehlte-welten.de - erfahren sie mehr über Ihr Leben und Wirken. Ihr erster Roman ist 2013 erschienen.
Die Autorin erzählt in ihrem Familienroman "Georg und Anna" die bewegende Geschichte einer vom Schicksal auseinandergerissenen Familie. Im Zentrum steht die konfliktreiche Liebe zwischen dem Geschwisterpaar Georg und Anna. Was bestimmt ihren Lebensweg? Rassismus und Diskriminierung werden thematisiert, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben. Aber auch Solidarität und Mitgefühl erleben die Figuren bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten.
* * * * *